Das
letzte Jahr war keine Freude für mich. Ab dem Herbst ging es richtig
bergab. Heute kann ich sagen dass diese Bauchlandung nicht nur
schlecht war, aber ich habe Sachen erlebt die ich keinem wünsche.
Im
Mai habe ich erfahren dass meine Schwester noch 6 Monate zu leben
hat. Ich habe damals nicht realisiert wie sehr mich das getroffen
hat. Habe ich es doch perfektioniert eine unbewegte Oberfläche zu
zeigen. Der Stein fiel ins Wasser, zog aber keine Kreise. Ich wollte
dem Arzt glauben dass meine Schwester ja noch jung ist und wir sicher
mehr Zeit haben. Zu allem Überfluss habe ich mich dann auch noch mit
meiner Schwester verstritten. Es gab keinen Abschied, keine
Aussprache. Am 13. August 2015 rief mich meine große Nichte an, sie
weinte und teilte mir mit das Mama tot ist. Ich hatte gerade Urlaub
und in der Nacht davor bis spät mit Freunden rumgesessen und meinen
Urlaub genossen. Ich sprang in ein Taxi und fuhr zur Wohnung meiner
Schwester. Meine Nichten waren völlig aufgelöst und vor Ort war
alles surreal. Die Polizei war da und ein Arzt. Außerdem jemand der
sich als Onkel meiner Nichten vorstellte, den ich aber nicht kannte.
Es stellte sich dann heraus dass es sich um den Mann der Tante der
Nichten handelte. Erst war ich pissig, denn ich bin ja der Onkel und
er nur angeheiratet. Aber der Typ war da und kümmerte sich. Er war
sogar vor mir da.
In
einer solchen Situation nimmt einen keiner bei der Hand. Die
offiziellen Menschen dort, also Bullen und Arzt, informierten mich
nur was zu tun sei, wie und wo ich mich hinwenden könne blieb aber
offen und ich musste das selbst herausfinden. Praktisch wäre ja eine
Broschüre aus der hervorgeht welche Schritte in solch einem Fall zu
machen sind und in welcher Reihenfolge. So etwas sollten einem die
Profis aushändigen. Ich hätte das gebraucht. Ich übernahm die
Organisation und schickte meine Nichten und den Onkel erstmal zum
Essen, weg von diesem Ort, damit die Mädels nicht Dinge sehen müssen
die sich ins Hirn brennen. Als ich das tat wusste ich noch nicht wie
richtig ich mit diesem Vorgehen lag. Ich beauftragte einen Bestatter,
der ließ mich Stunden warten. Stunden in denen ich vor dem Haus
meiner Schwester saß und mich nicht traute in die Wohnung zu gehen
weil ich nicht wusste ob ich den Anblick ihres Leichnams ertragen
könnte. Irgendwann, ich glaube etwa 5 Stunden später kamen die
Bestatter. Sie waren verplant und strahlten keinerlei Gelassenheit
oder irgendeine Form von Professionalität aus. Sie hatten keine
richtige Trage dabei und mussten meine Schwester in einem Sarg legen,
der dafür nicht vorgesehen war. Um das zu realisieren musste ich nun
doch mit in die Wohnung und mich der Situation stellen. Meine
Schwester war glücklicherweise mit einem Laken zugedeckt, nur ihre
kleinen, nackten Füße guckten heraus. Das werde ich nie vergessen.
Die Bestatter entfernten das Laken und so konnte ich ihr nochmal ins
Gesicht sehen. Ein toter Mensch sieht nicht wie ein schlafender
Mensch aus, er fehlt jede Energie, jede Spannung. Sie nahmen sie und
legten sie, wie einen Gegenstand, in den Sarg. Ich fand das lieblos
aber was sollte ich tun? Ich stand völlig neben mir.
Die
fünf Stunden Wartezeit wollte ich sinnvoll füllen. Einfach nur
funktionieren, das war wichtig. Ich nutze die Zeit um unsere Mutter
aufzusuchen, die zum Glück nur wenige Busstationen entfernt wohnte.
Nach 10 Jahren ohne Kontakt stand ich nun vor der Tür meiner Mutter
um ihr mitzuteilen dass ihre Tochter verstorben ist. Meine Mutter
reagierte wie ich das vermutet hatte, sie blieb ruhig und setzte
sich. Eine einzelne Träne ran ihr über die Wange, sonst keine
sichtbare emotionale Reaktion. Sie funktionierte auch einfach und
wollte wissen wie weit das mit dem Bestatter und der Wohnung geregelt
ist. Wir saßen lange schweigend bei einander nachdem ich ihr erklärt
hatte was passiert war und was ich wusste. Sie hat sich bis heute
nicht von diesem Schlag erholt.
Die
Tage danach waren unwirklich. Ich stand neben mir, tat was getan
werden musste. Ich kümmerte mich um alles. Der Vater meiner Nichten
kümmerte sich um die Mädels. Ich kümmerte mich um die rechtlichen
Belange. Wohnungskündigung und Auflösung. Meine große Nichte ließ
sich nicht ausboten und half immer mit wenn ich in die Wohnung ging.
Das Leben von jemandem wegzuräumen ist keine Vergnügen. Es war
intensiv und eine Reise durch das Leben meiner Schwester, einer
Person die ich nicht ansatzweise so gut kannte, wie man sich das
vielleicht wünschen könnte.
Ich
begleitete meine kleine Nichte zum Jugendamt und war überall da wo
es brannte. Ich hatte ja Urlaub und mich im Anschluß daran krank
schreiben lassen. Nicht weil ich das wünschte sondern weil meine
Ärztin mir das anriet. Ich war gesundheitlich völlig runter. Mein
Blutdruck ging durch die Decke und mein Langzeitzucker hing mit dem
Blutdruck da oben herum und feierte. In den Jahren vor diesem
Zusammenbruch habe ich mich nämlich einen Scheiß um meine
Gesundheit gekümmert. Ich hatte aufgegeben und mich damit abgefunden
dass ich irgendwann einfach umkippen würde. Jedes Mal wenn mit was
weh tat schloss ich mit meinem Leben ab. In diesen 3 Jahren mit dem
Kopf im Zuckersand, bin ich, ich weiß nicht wie oft, gestorben.
Meine Ärztin half mir langsam wieder auf die Beine, zeigte
Verständnis und sah von jedem Druck ab. Sie vermittelte mir einen
guten Diabetologen und mittlerweile bin ich wieder im gesunden
Bereich. Gut, ich habe immer noch 20 kg zu viel aber mein Zucker und
mein Blutdruck sind wieder in Ordnung. Das ist übrigens das Gute was
ich einleitend erwähnte.
Während
dieser Phase meldete sich meine Arbeit, ich war immer noch krank
geschrieben. Am Telefon wurde ich darüber informiert dass es eine
Beschwerde über mich gegeben hatte, ich reagierte gelassen, wenn man
einen Kinderladen leitet kann man es nicht allen recht machen und
irgendjemand ist immer etwas unzufrieden. Leider teilte mein
Arbeitgeber diese Gelassenheit nicht. In der Tat hatten sich, in
meiner Abwesenheit und ohne ein Gespräch mit mir gesucht zu haben,
fünf Familien über mich beschwert. Sie hatten einen Brief an den
Träger gerichtet in dem sie mir vorwarfen unfreundlich, angespannt
und laut zu sein. Die Beispiele die sie dafür nannten waren
allerdings alle dermaßen aus dem Kontext gerissen und verzerrt,
außerdem waren es Familien die schon seit Jahren nur Probleme
machten weil sie, zum Beispiel darauf verzichteten professionellen
Rat anzunehmen und erwarteten dass wir für all ihre verrückten
Ideen Verständnis haben. Ich hatte lange Verständnis dafür und ich
kam diesen Menschen immer entgegen, so es möglich war ohne meine
professionelle Position in Gefahr zu bringen. Ich nahm die Kritik an
dass ich durch war, verwehrte mich aber gegen die meisten, aus dem
Kontext gerissenen Beispiele der Eltern. Mir vorzuwerfen dass ich
laut bin wenn ich in einem Raum mit 20 Kindern Sportspiele mache, ist
etwas weltfremd.
Mein
Arbeitgeber schenkte den Eltern Glauben. Und obwohl es keine Kritik
an meiner pädagogischen Arbeit gab, meine geplanten Elterngespräche
sogar als äußerst konstruktiv gelobt wurden, wurde ich beurlaubt.
Mein Arbeitgeber setzte mich dermaßen unter Druck dass mir im
Gespräch mit meiner Chefin die Tränen gekommen sind. Ich verlor
meine Leitungsstelle und meine Stelle als Facherzieher. Ich wurde um
5 Stunden in meiner Arbeit reduziert und versetzt. Wer weiß was noch
alles passiert wäre wenn ich nicht in der Gewerkschaft wäre und
meine Anwältin nicht so cool gearbeitet hätte.
Noch
mal ganz klar, weil Eltern sich über meine Art der Elternarbeit
beschwerten bin ich beurlaubt worden und habe fast meinen Job
verloren. Das wird später nochmal wichtig.
Ich
war persönlich getroffen darüber das meine Kolleginnen nichts taten
um mich zu schützen. Ich wurde einfach fallen gelassen. Heute weiß
ich dass meine beiden Kolleginnen schockstarr waren. Eine
Berufsanfängerin und eine Azubi kann so etwas schon überfordern.
Selbst altgediente Hasen wie mich macht sowas fertig. Meiner
Leitungskollegin allerdings, 10 Jahre älter als ich, wir haben 5
Jahre eng zusammen gearbeitet. Ich weiß nicht wie oft ich sie
gedeckt habe, sie vertreten habe, ihre Fehler mit ausgebügelt habe
und einfach nur geholfen habe wo ich konnte. Diese Person ließ mich
fallen. Ja, sie sprach sich sogar dafür aus dass ich den Laden zu
verlassen habe. Sie hat mich verraten. Ich hoffe ich finde irgendwann
die Kraft ihr zu verzeihen, momentan will mir das noch nicht
gelingen.
Mein
Arbeitgeber, in Person der Geschäftsführung, will mich los werden.
Leicht ist das allerdings nicht, denn ich habe einen unbefristeten
Vertrag und bin streitbar. Ich kann mich gut daran erinnern dass ich
vor dieser Person gewarnt wurde, bevor ich bei diesem Träger
anheuerte. Schon beim Einstellungsgespräch vergriff sich diese
Person im Ton, dass ich eigentlich hätte gehen sollen. Aber wen
interessiert schon die Geschäftsführung wenn man pädagogisch
arbeiten möchte? Heute weiß ich dass diese Person das Schlimmste
ist was dem Träger passieren konnte und das ihre absolute Art zu
herrschen den Träger kaputt macht. Aber noch bin ich da. Auch wenn
sie mich völlig schikanös einsetzen. So arbeite ich einen Tag in
der Woche für 4 Stunden in einer Einrichtung. Selbst nach einem
halben Jahr habe ich kaum Kontakt zu dem Team oder zu den Kindern.
Die Leitung der Einrichtung teilte mir mit das sie selbst diese
Regelung für völlig sinnfrei hält, aber keine Handlungsmöglichkeit
hat. Das muss man sich mal vorstellen!
Die
restlichen vier Tage in der Woche arbeite ich in einem Hort in
Wilmersdorf und fühle mich dort im Team sehr wohl. Tolle
Kolleg*innen und Kinder.
Meine
Mutter, sie hat sich nicht erholt von der Nachricht von Tode meiner
Schwester. In den Monaten seitdem hat sie stark abgebaut. Nach
einigen Monaten im Krankenhaus ist es mir gelungen sie in einem
Pflegeheim unterzubringen. Ich bin jetzt der gerichtlich bestellte
Betreuer meiner Mutter. Ich sehe sie zweimal die Woche und habe keine
Ahnung wie lange sie mich noch erkennt. Ich wollte nicht ihr Betreuer
werden, ich weiß wie schwer mir eine solche Arbeit fällt. Immerhin
bin ich Facherzieher für Integration und lasse mich eigentlich für
solche Dienste bezahlen. Die lange Jahre ohne Kontakt haben meine
Bereitschaft zu dieser Aufgabe nicht gestärkt. Und doch, ich konnte
es nicht übers Herz bringen, ich habe die Betreuung übernommen. Es
erschien mir falsch sie im Stich zu lassen, es wäre die Fortsetzung
unserer Lebensgeschichte gewesen. Dass wir immer allein sind wenn wir
die Familie am dringendsten brauchen. Meine Schwester starb einsam.
Ich hatte mit vielen lieben Menschen lange über die Situation
geredet und alle attestierten mir dass es völlig ok sei wenn ich
das ablehnen würde. Allein wegen unserer gemeinsamen Vita. Für mich
war der Schluß ein anderer, eben diese katastrophale Vita fordert
das ich da bin. Das ich den Fluch breche. Auch wenn es nicht leicht
ist. Auch wenn ich oft nicht will.
Der
Tod ist jetzt nicht mehr unansprechbar. Ich habe ihn als Teil des
Lebens akzeptiert, als Teil meines Lebens. Er ist nicht mehr etwas
das nur anderen Leuten passiert. Das fühlt sich besser an. Sterben
möchte ich natürlich trotzdem nicht, aber was soll man machen?
Und
zwischendurch sind noch soviel andere Dinge geschehen. Im Dezember
ist Cäthe gestorben. Ein Kind das ich in den Kinderladen aufgenommen
hatte. Ein bezauberndes, schwerst mehrfach behindertes Kind auf das
ich mich wirklich gefreut habe.
Ich
habe liebe Menschen kennengelernt. Ich habe wieder Theater gespielt,
unglaublich wie viel Kraft mir das gegeben hat. Meine Arbeit macht
mir wieder Spaß. Ich habe 20kg angenommen. Meine Mitbewohnerin hat
sich als die beste Freundin herausgestellt die man in solchen Zeiten
haben kann. Meine Freundeskreis war voller Anteilnahme.
Ich
danke euch allen, die in dieser Zeit zu mir gehalten haben, ohne euch
hätte ich nicht den Kopf über Wasser behalten. Freunde sind die
Familie die man sich selbst aussucht.
Und
jetzt? Ach ja, in meinem alten Kinderladen schlägt die neue
Integrationserzieherin einem Kind, zu zwei unabhängigen Anlässen
ins Gesicht und darf dort weiter arbeiten. Sie wird nicht mal
beurlaubt. Unglaublich was es zu erleben gibt. Guckt euch gut an wo
ihr eure Kinder unterbringt.
Ich
liebe euch alle :)